Schlagwort-Archiv: Gericht

Anspruch auf Arbeitsassistenz auch im Rentenalter

Liebe Leserinnen und Leser,

in Deutschland arbeiten immer mehr Menschen über das Rentenalter hinaus. Menschen, die für ihre Tätigkeit eine Arbeitsassistenz benötigen, blieb diese Option vom Kostenträger bisher verwehrt. “Ein klarer Fall von Diskriminierung”, findet ABSV-Geschäftsführerin Dr. Verena Staats. So sieht das offenbar auch das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, das in zwei Fällen zugunsten der blinden Kläger entschieden hat.

Lesen Sie dazu, was der DBSV in seinem aktuellen DBSV-Newsletter [dbsv-direkt] Nr. 03-22 schreibt:

Eine gute Nachricht für viele behinderte Menschen kommt heute vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig: Der Anspruch auf Arbeitsassistenz endet nicht automatisch, nur weil man das Rentenalter erreicht hat! Ein blinder Mensch, selbstständig tätig, hatte geklagt, weil sein Kostenträger die Arbeitsassistenz nicht über das Renteneintrittsalter hinaus finanzieren wollte. Ihm wurde nun recht gegeben. Auch in einem zweiten, ähnlich gelagerten Fall, entschied das Gericht im Sinne des blinden Klägers.

Dr. Michael Richter von der rbm gGmbH, der Rechtsberatungsgesellschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV), hat beide Kläger vor dem Bundesverwaltungsgericht vertreten. Aus seiner Sicht sind die Entscheidungen Meilensteine für die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und eine selbstbestimmte Lebensplanung: “Wenn behinderte Menschen sich bewusst für eine längere Erwerbstätigkeit entscheiden, dann muss ihnen auch die dafür nötige Arbeitsassistenz weiter gewährt werden.”

Zu den beiden Verfahren:

In einem Fall (BVerwG, Urteil vom 12.01.2022 Az.: 5 c 6.20) klagte ein blinder Selbstständiger, der als Lehrer, Berater und Gewerbetreibender tätig ist. Nachdem die beiden hessischen Vorinstanzen einen Anspruch auf Arbeitsassistenz ablehnten, hob das Bundesverwaltungsgericht das Urteil auf und verwies die Sache zur Klärung noch offener Fragen und erneuten Verhandlung zurück an die Vorinstanz.

In einer Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts heißt es dazu, in der einschlägigen gesetzlichen Regelung in § 185 Abs. 5 SGB IX sei eine Altersgrenze weder ausdrücklich geregelt, noch im Wege der Auslegung zu begründen. Der Anspruch setze zum einen für eine Einordnung als Hilfe im Arbeitsleben nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck der Regelung nur voraus, dass der schwerbehinderte Mensch einer nachhaltig betriebenen Erwerbstätigkeit nachgehe, die geeignet sei, dem Aufbau bzw. der Sicherung einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage zu dienen. Zum anderen sei erforderlich, dass tatsächlich Arbeitsassistenzleistungen erbracht werden, die unter Berücksichtigung der konkreten Arbeitsumstände zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile notwendig seien.

Im zweiten Fall hatte ein blinder Rechtsanwalt geklagt. Die Vorinstanzen in Mecklenburg-Vorpommern hatten dem Kläger die Leistung zugesprochen (OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 24.11.2020 Az.: 1 LB 611/18 OVG). Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung und wies die Revision der Beklagten zurück (BVerwG, Urteil vom 12.01.2022 Az.: 5 C 2.21).

Quelle: ABSV

Wenn die Krankenkasse die Leistung verweigert – MS kein Hinderungsgrund für Blindenhund

Liebe Bloggemeinde,

eine Gehbehinderung aufgrund einer MS-Erkrankung ist grundsätzlich kein Hinderungsgrund für die Versorgung einer blinden Versicherten mit einem Blindenführhund durch ihren gesetzlichen Krankenversicherer. Das hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen mit Urteil vom 21. November 2017 entschieden (L 16/1 KR 371/15).
Eine 73-jährige blinde Frau war von ihrer Krankenkasse mit einem Blindenlangstock versorgt worden. Da sie zusätzlich unter Multipler Sklerose litt und dadurch gehbehindert war, hatte ihr die Körperschaft auch die Anschaffung eines Rollators finanziert.
Doch das reichte der Klägerin auf Dauer nicht aus – und sie bat ihre Kasse darum, ihr die Anschaffung eines Blindenführhundes zu bezahlen. Dies begründete sie damit, dass sie wegen der Kombination aus der Gehbehinderung und der Erblindung Schwierigkeiten bei Straßenüberquerungen sowie beim Finden von Eingängen, Briefkästen und Geschäften habe.
Unwirtschaftlich?
Die Krankenkasse hielt das Begehren der Klägerin für unwirtschaftlich. Denn sie könne aufgrund ihrer schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen keinen Blindenhund führen. Dazu fehle ihr die nötige Kondition. Sie sei wegen ihrer Behinderungen außerdem nicht dazu in der Lage, einen Hund adäquat zu versorgen. Die Körperschaft lehnte daher den Antrag der Klägerin ab.
Zu Unrecht, befanden die Richter des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen. Sie gaben der Klage der 73-Jährigen auf Bewilligung der beantragten Leistung statt. Nach Ansicht des Gerichts kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, ob ein Versicherter einen Anspruch darauf hat, von seinem gesetzlichen Krankenversicherer mit einem Blindenführhund versorgt zu werden.
Rüffel für die Kasse
In dem entschiedenen Fall kamen die Richter nach der Anhörung von Gutachtern und Ärzten zu dem Ergebnis, dass eine ausschließliche Versorgung der Klägerin mit einem Langstock nicht ausreicht. Denn sie müsse zugleich den Rollator halten. Die Kombination aus Rollator und Blindenführhund sei hingegen realisierbar und für die Klägerin auch praktikabel. Denn auch körperbehinderte Menschen könnten einen solchen Hund am Rollator einsetzen, sofern dieser entsprechend trainiert werde.
Den Einwand der Kasse, dass die Klägerin nicht dazu in der Lage sei, einen Blindenführhund adäquat versorgen zu können, hielt das Gericht ebenfalls für unbegründet. Denn sie besitzt nach Meinung der Gutachter eine ausreichende körperliche Grundkonstitution und die Fähigkeit zur Versorgung eines Hundes.
Darüber hinaus musste sich die Körperschaft einen Rüffel durch das Gericht gefallen lassen. Denn die Kasse hatte trotz vier anderslautender Gutachten bis zuletzt in Zweifel gezogen, dass es sinnvoll sei, den Wunsch der Klägerin nach einem Blindenführhund zu erfüllen.
Die Krankenkasse wurde von den Richtern an die Pflicht zur humanen Krankenbehandlung erinnert. Sie empfanden es als besonders verwerflich, dass die Kasse im Vorfeld zum Verhandlungstermin bei der Hundeschule angerufen hatte, um sie von der körperlichen Ungeeignetheit der Klägerin zu überzeugen und die Realisierung des Leistungsanspruchs zu behindern.

Quelle: Mehrwert